Vorgezogene Wahlen: Israel verpasst wieder eine Chance, sein reparaturbedürftiges politisches System zu reformieren
Amos Biederman in Ha'aretz: bekommt Netanyahu Konkurrenz aus den eigenen Reihen? / Shlomo Cohen in Israel Ha'yom: Lapid und Livni geschasst / Chef der Arbeitspartei Herzog versucht, Livni zur Annahme seiner Führerschaft zu bewegen / wie geht die Wahl aus? Zeit der Propheten (nach Gustave Doré) / Times of Israel: es geht nur noch um die Wahl
Nach weniger als zwei Jahren im Amt sah sich die Regierung in Israel gezwungen, frühzeitig abzutreten. Wie es momentan aussieht (Wunder können immer noch geschehen!) wird es am 17. März 2015 vorgezogene Wahlen geben. Hierzu wird die Knesset in den nächsten Tagen die parlamentarische Arbeit einstellen. Es beginnt ein Wahl- und Machtkampfmarathon, der bereits jetzt sehr intensiv und mit vielen gegenseitigen Vorwürfen oder gar Beschimpfungen ausgetragen wird. Bei dieser unnötigen Entwicklung gibt es nur Verlierer - die Parteien, die Politiker, das parlamentarische System... am meisten jedoch verlieren die Bürger Israels, die die Verschiebung von höchst wichtigen Reformen hinnehmen müssen und für diesen Urnengang finanziell belastet werden.
In diesen Tagen kommt aus Israel eine sehr überspitzte, teils verwirrende Rhetorik. Das ist typisch für Wahlzeiten. Die politischen Gegner versuchen sich zu behaupten und sagen viel Unsinniges über die Gründe für das jüngste Geschehen sowie über ihre jeweiligen Rivalen. Nun gilt es also, in einigen Anmerkungen für Klarheit zu sorgen.
Erstens: in der noch amtierenden Regierung gab es keine grundlegenden sachlichen Differenzen, die auch nur im Entferntesten ihre Auflösung hätten begründen können. Weder Premier Benjamin Netanyahu noch die nun geschassten Minister Yair Lapid und Tzipi Livni können auch nur ein Sachthema nennen, woran die Regierungsarbeit hätte scheitern müssen. Ein solches, überragendes Thema gibt es eben nicht. Viel mehr gab es seit vielen Monaten den wiederholten Versuch, die heftigen Machtkämpfe zwischen den Personen am Kabinettstisch sowie unter den Koalitionspartnern mit gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten zur Finanzpolitik, Sozialpolitik und Aussenpolitik als dramatisch darzustellen. Damit wollten sich Einige als besonders glaubwürdig und respektvoll profilieren.
Zweitens: Die aktuelle Krise ist also sehr stark personenbezogen. Gleich mehrere Mitglieder der Regierung sind äusserst ehrgeizig und sehen bzw. sahen immer wieder eine Chance, bei passender Gelegenheit den amtierenden Ministerpräsidenten auszuspielen. Hierzu wurden verschiedene Taktiken probiert - Äusserungen gegen die eigene Regierungspolitik, die ja alle Minister mitverantworten; fehlende Disziplin und Abstimmung; lächerliche Versuche, Sachthemen verzerrt darzustellen, um den Gegner am Kabinettstisch zu diskreditieren. Kurzum ging es bei dieser Krise um unbegrenzte, persönliche Ambitionen. Das Ego von Einzelnen war das A und O und überschattete die sonst gute Regierungsarbeit.
Drittens: Das gegenseitige Misstrauen wurde zum Hauptproblem. Die Rivalen in der Regierung haben ständig nach Möglichkeiten gesucht, die Regierung zu stürzen um mit anderen Partnern eine neue Koalition zu bilden - und dann praktisch die Macht an sich zu reißen. Nach Lage der Dinge konnten solche Versuche nur dann gestartet werden, wenn die konkurrierenden Politiker die Unterstützung der oppositionellen ultraorthodoxen Parteien sowie der Arbeitspartei gewonnen hätten. Das verspräche nichts Gutes für Israel. Denn die zaghaften Versuche der aktuellen Regierung, einige wichtige Reformen durchzusetzen, wären zunichte gemacht. Hierzu zählen Initiativen, ultraorthodoxe Religionschüler mit der Arbeitswelt vertraut zu machen und sie unter bestimmten Umständen zum Dienst in der Armee zu bewegen.
Viertens: Bedauerlicherweise verpasste die aktuelle Regierung eine seltene, vielleicht einmalige Chance, das parlamentarische System an einigen Stellen wesentlich zu reformieren, um endlich mehr Berechenbarkeit und Stabilität zu schaffen. Solche Reformern hätten mit den überwiegend größeren und weltlichen Parteien in der Regierung auf den Weg gebracht werden können - was eigenlich auch fest geplant war. Übriggeblieben ist nur eine, relativ kleine doch nicht unwichtige Reform. Die Sperrklausel bei der kommenden Wahl wird leicht angehoben - von zwei Prozent auf 3,25 Prozent. Die Gegner - das sind natürlich die Vertreter von mehreren kleinen Parteien - kritisieren diese bescheidene Massnahme als "undemokratisch". Diese unqualifizierte Kritik kann man aber nicht ernst nehmen. Man soll vor allem versuchen, bei der nächsten Wahl nur noch größere Parteien zu stärken, damit Israel endlich aus dem Teufelskreis der häufigen Regierungskrisen und Wahlgänge herauskommt.
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Schlagwörter: gustave dore, tzipi livni, vorgezogene wahlen, yair lapid, Zeit der Propheten
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